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Gesundheitskompetente Einrichtungen – Gesundheitskompetenz in Berlin aufbauen und stärken

Rückblick auf das Gesundheitsforum der Landesgesundheitskonferenz vom 05. Oktober 2020

Einem Großteil der Bevölkerung in Deutschland fällt es schwer, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und für gesundheitsbezogene Entscheidungen anzuwenden. Sind Menschen nicht im Besitz dieser Fähigkeiten, ist ihnen der Zugang zur sozialen Teilhabe und zum Gesundheitssystem nur erschwert möglich. Daher ist es wichtig, durch den Einsatz für mehr Gesundheitskompetenz die soziale und gesundheitliche Chancengleichheit zu ermöglichen und zu stärken.

Vor diesem Hintergrund widmete sich das Gesundheitsforum der Landesgesundheitskonferenz am 05.10.2020 den Fragen: Was zeichnet gesundheitskompetente Einrichtungen aus? Wie gehen Berliner Einrichtungen mit der Implementierung von Gesundheitskompetenz um? Welche Erfahrungen, Möglichkeiten, Hürden und Beispiele gibt es bereits und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

Diese und weitere Fragen diskutierten:

Podiumsgäste

  • Dr. Christian von Dewitz | Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung
  • Alexander Blagojevic | BKK VBU
  • Christian Komp | BKK VBU
  • Dr. Dominik Schmidt |Ev. Waldkrankenhaus Spandau
  • Petra Schomacker | Haus Müggelspree, Stephanus gGmbH
  • Daniela Lutter | MädchenSportZentrum Kreafithaus (Lichtenberg), Gesellschaft für Sport und Jugendsozialarbeit gGmbH
  • Johanna Schittkowski | SEKIS – Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle
  • Dr. Filippo Smerilli | SPRECHRAUM. Beratung bei Stottern und anderen Behinderungen
  • Susanne Jordan | Robert Koch-Institut

Moderation

  • Heike Drees | Paritätischer Wohlfahrtsverband LV Berlin e.V.
  • Stefan Pospiech | Gesundheit Berlin-Brandenburg e. V.

Vom Präventionsdilemma zum Perspektivwechsel

Mit ihrem Impulsvortrag klärte Dr. Susanne Jordan vom Robert Koch-Institut wichtige Begriffe und Definitionen rund um das Thema Gesundheitskompetenz. Sie betonte, dass Gesundheitskompetenz nicht nur von den persönlichen Kompetenzen der Einzelnen abhänge, sondern auch von den Anforderungen und der Komplexität der jeweiligen Lebensumwelt bestimmt würde. In diesem Perspektivwechsel liegt jede Menge Potential: In dem man die Inhalte von Gesundheitsinformationen und deren Vermittlung konsequent auf die Bedarfslagen verschiedener Bevölkerungsgruppen ausrichtet, könne man dem Präventionsdilemma entgegenwirken und mehr gesundheitliche Chancengleichheit erreichen.

In der anschließenden Podiumsdiskussion setzten sich die Teilnehmenden mit den besonderen Anforderungen an Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, der Prävention und der Gesundheitsförderung auseinander. In kurzen Impulsen schilderten sie ihre Erfahrungen und Good-Practice-Beispiele aus Berlin.

Dr. Christian von Dewitz (SenGPG) sieht eine Lösung im Aufbau von Präventionsketten, den der Senat aktiv unterstützt. Um sozial benachteiligte Menschen zu erreichen und Gesundheitskompetenz zu verankern, müsse auf bezirklicher Ebene angesetzt werden.

Beispiele guter Praxis

Ein Beispiel dafür sind die Babylotsen.  Sie unterstützen bereits werdende Eltern und stehen damit am Anfang der bezirklichen Präventionsketten , wie Dr. Dominik Schmidt, ärztlicher Koordinator der Babylotsen im Waldkrankenhaus Spandau erläuterte. Er betonte, dass Präventionsketten nicht nur von Flyern oder Informationsveranstaltungen, sondern vor allem von der direkten Ansprache leben. Der soziale Kontakt, konkrete Ansprechbarkeit „mit Gesicht“ sowie die organisationale Haltung und Kommunikation seien wichtige Gelingensfaktoren.

Als Good-Practice-Beispiel zur Gewaltprävention in der stationären Pflege stellte Petra Schomacker das Projekt „Einander verstehen – gemeinsames Leben im Haus Müggelspree“ vor. Es werden Schulungen durchgeführt, einrichtungsinterne Handlungsleitlinien überprüft und angepasst sowie feste Gewaltpräventions-/Deeskalationsbeauftragte in der Pflegeeinrichtung installiert. Im Ergebnis lernen alle Beteiligten, verstärkt auf die eigenen und die Grenzen der Anderen zu achten, um respektvoll und auf Augenhöhe miteinander umzugehen. Ein Beispiel für gelebte organisationale Gesundheitskompetenz.

Mit dem Projekt „Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen “ der Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstellen SEKIS stellte Johanna Schittkowski ein weiteres Beispiel der guten Praxis vor. Neben der Förderung der individuellen Gesundheitskompetenz vernetzt die Selbsthilfe als Vermittlungsstelle Akteure im Gesundheitswesen und macht Angebote bekannter. Deutlich werde dies im Projekt „Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen“ in dem Erfahrungsexpert*innen aus der Selbsthilfe einbezogen werden, um u. a. Zugänge besser zu gestalten.
 

Menschen dort abholen, wo sie sind

Alexander Blagojevic (BKK VBU) gab einen Überblick über bestehende Möglichkeiten, die sich durch den § 20 SGB V (Primäre Prävention und Gesundheitsförderung) eröffnet haben. Neben der Finanzierung sei es wichtig, Organisationen zu befähigen, selbstständig Gesundheitskompetenz zu implementieren und nachhaltig aufzubauen. Christian Komp (BKK VBU) plädierte für mehr Aufgeschlossenheit, das Thema langfristig zu sehen und mit langem Atem anzugehen. Menschen müssten dort abgeholt werden, wo sie sind: in Kita, Schule, Sportverein, Arbeitswelt. 

Ob Menschen von Gesundheitseinrichtungen erreicht werden, sei abhängig von Kleinigkeiten wie einer Wegbeschreibung, der Empathiefähigkeit der Beratenden oder das Bereitstellen von einfachen Hilfsmitteln, schilderte Dr. Filippo Smerilli vom SPRECHRAUM . Es hänge viel davon ab, ob Menschen sich in ihrer Besonderheit entweder wahrgenommen und willkommen geheißen werden oder eben nicht. Fehlen diese Kleinigkeiten, erreichen Gesundheitseinrichtungen diese Menschen nicht und Chancengleichheit rückt in weite Ferne.

Daniela Lutter vom Kreafithaus  in Lichtenberg wies darauf hin, dass eine Organisationsentwicklung, die auf eine gesundheitsförderliche Kultur in der Einrichtung abzielt, unbedingt des Rückhalts durch den Träger bedarf. Als zertifizierte GUT DRAUF-Einrichtung verankert das Kreafithaus tagtäglich den Dreiklang aus Spaß an der Bewegung, Stressregulation und Ernährung nachhaltig in der Lebenswelt von heranwachsenden jungen Menschen. Beispiele aus anderen Bundesländern geben gute Impulse zur Weiterentwicklung.
 

Nicht auf bereits Erreichtem ausruhen

“Obwohl in Berlin schon einiges erreicht wurde, stehen wir immer noch am Anfang.”, resümierte Dr. Susanne Jordan. Nach wie vor würden unsere Einrichtungen vielen Bedürfnissen nicht gerecht werden. Es brauche eine bessere Orientierung im Gesundheitswesen bzw. im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung - sowohl für den einzelnen Menschen als auch für Unternehmen. Worauf es ankomme, sei die Haltung, betonte sie.

In der Diskussion wurde deutlich, dass Einrichtungen aufgefordert sind, Gesundheitskompetenz auf allen Ebenen zu verankern und zielgruppenorientiert zu gestalten. Neben der Etablierung von niedrigschwelligen Zugangswegen, verständlichen Informationen und einer wirksamen Kommunikation gehören Transparenz und Orientierungshilfe dazu. Wichtig ist zudem die Partizipation der Zielgruppe sowie die Sensibilisierung und Schulung der Mitarbeitenden. Das alles gibt es nicht umsonst, sondern benötigt neben Zeit auch personelle und finanzielle Ressourcen. Mit Blick auf gesundheitliche Chancengleichheit für alle jedoch ein lohnenswertes Engagement. 
 

Was ist in Berlin zu tun?

Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖDG) als Koordinator sowie zentraler Steuererstärken, aufbauen und ausbilden

 
  • ÖGD als Schlüsselstelle für Gesundheitskompetenz einer Gesellschaft, als Kümmerer, der zentral steuert, ohne zu benachteiligen oder zu bevormunden
  • Dafür Stärkung des ÖGD durch strukturellen und personellen Ausbau sowie der wissenschaftlichen Basis des ÖGD in Forschung und Lehre – dies wird mit dem ÖGD-Pakt bereits angegangen
 

Von- und miteinander lernen

 
  • Positive Erfahrungen aus anderen Bundesländern einholen und nutzen
  • Vor Ort konkrete Bedarfe, aber auch gute Praxis erkennen und nutzen
 

Aufgeschlossenheit und der Wille, das Thema langfristig und gemeinsam anzugehen

 
  • Einrichtungen langfristig so gestalten, dass sie vielen Bedürfnissen gerecht werden, und besonders diejenigen in den Blick nehmen, die Schwierigkeiten haben, sich zu orientieren
 

Die Kommunikation zwischen Entscheidungs-tragenden, Praktikerinnen und Praktikern sowie Betroffenenorganisationen sollten auf allen Ebenen des Gesundheitswesens gestärkt werden

 
  • Gegenseitiges Verständnis für die oft besonderen Bedarfe, Herausforderungen, Schwierigkeiten und Lösungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Akteurinnen sowie Akteuren im Gesundheitsbereich verbessern
  • Betroffene mit all ihren Erfahrungen stärker als bisher einbeziehen und als Erfahrungsexpertinnen und -experten in eigener Sache in Positionen bringen, in denen sie Strukturen und Prozesse mitgestalten können
  • Orte, Veranstaltungen, Räume schaffen, in denen man diese Vernetzung und Kommunikation zwischen Betroffenen, Erkrankten und Entscheidungsträgern ermöglicht und fördert
 

Gesundheitskompetente Einrichtungen und Präventionsketten leben vom direkten Kontakt

 
  • Bezirkliche, wohnortnahe Angebote mit nachhaltigen Kontakten werden benötigt: Der soziale Kontakt, konkrete Ansprechbarkeit „mit Gesicht“ als organisationale Haltung
  • Lotsen sind wichtig, z. B. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Kliniken und Schulen. Es sollte eine allg. Vertrauensperson geben, die ansprechbar ist, um z. B. aus der Schule heraus in die Familien hineinzuwirken z. B. Selbsthilfebeauftragte in jeder Klinik mit Lotsenfunktion für die Zielgruppe der Erwachsenen bzw. Patientinnen und Patienten, um Übergänge zu schaffen; finanziell ausgestattet, damit die zeitintensive Beziehungsarbeit nicht ehrenamtlich oder ‚nebenbei‘ erfolgt
  • Präventionsketten benötigen eine zentrale Steuerung, ein gemeinsames Vorgehen (nicht nur einzelne Landesprogramm)
 

Die notwendigen finanziellen Mittel müssen bereitgestellt werden

 
  • Nicht nur für die Angebote selbst, sondern auch für etwaige Lotsenfunktionen, die Übergänge schaffen, für Schnittstellenarbeit, Austausch und Weiterentwicklung von Angeboten
 

Neben dem Einblick in eine Vielzahl von positiven Entwicklungen zeigte die Veranstaltung, dass weiterhin Handlungsbedarf besteht, um Gesundheitskompetenz in Einrichtungen der sozialen Lebenswelten auszubauen und zu stärken. Die Erkenntnisse und Impulse der Podiumsgäste sind eine gute Voraussetzung, um die kontinuierliche und immer wieder neu beginnende Aufgabe zu bewältigen.

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