Unsere Sprechzeiten:

„Ambulante Gesundheitsversorgung und Prävention weiterdenken – für eine integrierte Gesundheit“

Ein Rückblick auf das Gesundheitsforum der Berliner Landesgesundheitskonferenz

Demographische Entwicklungen wie die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft oder die Prognose, dass wir in Deutschland in den kommenden Jahren hausärztlich unterversorgt sein werden, sind Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung. 

Neue Versorgungsformen sind gefragt

Eine vielversprechende Lösung stellt die integrierte Gesundheitsversorgung dar. Sie verbessert die Zusammenarbeit und Information aller, die an der Behandlung von Patient*innen beteiligt sind. Bislang haben Patient*innen oftmals mit einer fragmentierten Versorgung zu kämpfen: für eine gute Versorgung müssen sie viele verschiedene Ärzt*innen aufsuchen, die nicht miteinander in Kontakt stehen. 

Eine integrierte Versorgung stellt Patient*innen und ihr soziales Umfeld in den Mittelpunkt 

Um den vielfältigen Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, arbeiten unterschiedliche Akteur*innen im Stadtteil eng zusammen – angefangen bei der medizinischen Versorgung bis hin zur (psycho-)sozialen Beratung (z. B. durch Sozialarbeitende) und weiteren Angeboten. Niedrigschwellige Zugänge und eine wohnortnahe Erreichbarkeit der interdisziplinären Teams vor Ort spielen dabei eine große Rolle.

Beitrag für gesundheitliche Chancengleichheit

Ziel neuer Versorgungsformen ist es, allen Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, ethnischem Hintergrund, Religion/Weltanschauung, Behinderung, sexueller Identität oder Bildungsstatus eine bestmögliche Gesundheitsversorgung zukommen zulassen. Sie findet auf Augenhöhe mit den Patient*innen statt und ist am Bedarf der Menschen ausgerichtet. Die multiprofessionellen Teams kennen die familiären und lebensweltlichen Umstände und können so Menschen in komplexen gesundheitlichen und (psycho-)sozialen Problemlagen besser unterstützen und Barrieren zu gesundheitlichen und psychosozialen Angeboten abbauen. Dies verbessert den Gesundheitsstatus der Menschen und leistet einen Beitrag für mehr gesundheitliche Chancengleichheit.

Am 28. Juni 2022 fand das Gesundheitsforum der Berliner Landesgesundheitskonferenz „Ambulante Gesundheitsversorgung und Prävention weiterdenken – für eine integrierte Gesundheit“ statt. Im Mittelpunkt standen folgende Fragen:

  • Was sind erforderliche Schritte zur Umsetzung der integrierten und optimierten ambulanten Gesundheitsversorgung?
  • Wie kann eine bessere Zusammenarbeit der gesundheitsrelevanten Disziplinen dadurch gelingen?
  • Welche Rolle kann der öffentliche Gesundheitsdienst dabei einnehmen?
  • Wie kann Qualitätssicherung gewährleistet werden?

Staatssekretär Dr. Thomas Götz eröffnete die digitale Veranstaltung. In seinem Grußwort betonte er die Wichtigkeit, das biopsychosoziale Modell  in den Versorgungsstrukturen tiefer zu verankern, also ein breiteres Gesundheitsverständnis anzuwenden und vom Menschen aus zu denken. Vor diesem Hintergrund stellen integrierte Gesundheitszentren und dessen Ansätze eine vorteilhafte Versorgungsform im Kontext des Gesundheitswesens dar. 

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Karsten Zich, IGES Institut, ordnete die Thematik ein: Warum braucht es einen Neustart der Primärversorgung und weshalb werden neue Versorgungsmodelle benötigt?
Eine stärkere Primärversorgung bringe eine Reihe an Vorteilen mit sich – beispielsweise bessere gesundheitliche Ergebnisse, mehr gesundheitliche Chancengleichheit oder weniger Krankenhauseinweisungen. In Deutschland schreitet die Entwicklung der Primärversorgung  allerdings nur langsam voran, so Karsten Zich. Als Gründe nennt er unter anderem eine Spezialist*innen- und Ärzt*innenlastigkeit. Außerdem braucht es verbesserte Prozesse in der Versorgung sowie entsprechende Vertrags- und Vergütungsbedingungen.  

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Beispiele aus der Praxis und Erfahrungsberichte

Dr.in Martyna Voß, soziale Gesundheit e. V., stellte das Projekt „Sozialberatung in Arztpraxen“ aus dem Bezirk Lichtenberg vor. Die Zusammenarbeit von Ärzt*innen sowie Sozialarbeitenden in der Arztpraxis werde von den Fachkräften selbst sowie von den Patient*innen sehr geschätzt. Ziel dieses Projekts ist es, das biopsychosoziale Modell in Arztpraxen anzuwenden. Mit einer besseren Versorgungsqualität kann auch mehr gesundheitliche Chancengleichheit erreicht werden, so Dr.in Martyna Voß.

Dr.in med. Patricia Hänel, gab einen Einblick in das Projekt Gesundheitskollektiv (GeKo) e. V. aus Nord-Neukölln. Hier arbeiten Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und weitere Disziplinen unter einem Dach eng zusammen. Dabei orientiert sich das Gesundheitszentrum GeKo an dem Community Health-Ansatz aus den skandinavischen Ländern. Hervorgehoben wird die Zusammenarbeit mit den Menschen aus dem Kiez und damit das Ziel, vor allem Menschen in schwierigen Lebenslagen eine stärkere Stimme zu geben.

Jazz Dingil berichtete als Nutzerin über ihre Erfahrungen mit dem Gesundheitskollektiv Neukölln als ein Beispiel der integrierten Gesundheitsversorgung. Sie lobte den leichten Zugang, der ihr in ihrer persönlichen herausfordernden Situation sehr geholfen hat und sprach sich für den weiteren Ausbau dieser Versorgungsform aus. Als Empfehlungen für eine verbesserte Gesundheitsversorgung aus Nutzendenperspektive nannte sie weniger Bürokratie, um Hürden abzubauen, Alternativen zu kassenärztlich zugelassenen Psychotherapien und eine bessere finanzielle Unterstützung durch die Kassen.

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Aktueller Stand und weiteres Vorgehen

Abschließend berichtete Staatssekretär Dr. Thomas Götz zum aktuellen Stand sowie dem weiteren Vorgehen beim Aufbau einer ambulanten integrierten Gesundheitsversorgung. Der Berliner Koalitionsvertrag der aktuellen Legislaturperiode sieht die Förderung einer integrierten Gesundheitsversorgung vor. Berlin hat hier das Ziel, eine Vorbildfunktion für den Rest der Bundesrepublik einzunehmen. Derzeit würden Eckpunkte für die Umsetzung entwickelt, so der Staatssekretär. Entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung sei dann die Zusammenarbeit aller Akteur*innen im Gesundheitswesen.

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Auf dem Podium diskutierten Vertretende aus Politik, Landesverwaltung, Gesundheitsversorgung, Wissenschaft und Krankenkassen:

  • Tanja Götz-Arsenijevic, Bezirksamt Spandau von Berlin
  • Dr.in med. Patrica Hänel, Gesundheitskollektiv Berlin e. V.
  • Dr. med. Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender Kassenärztliche Vereinigung Berlin
  • Jun.-Prof.in Dr. Verena Vogt, Technische Universität Berlin
  • Dr.in Martyna Voß, soziale Gesundheit e. V.
  • Dr. Christian von Dewitz, Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung
  • Rebecca Zeljar, vdek - Verband der Ersatzkassen e. V.

Perspektiven zur Umsetzung einer integrierten Gesundheitsversorgung

Bessere Versorgung durch neue Strukturen

Neue Strukturen, die sozialunterstützende und versorgende Elemente zusammenbringen, werden derzeit geplant, so Dr. Christian von Dewitz. Ziel sei es, ein biopsychosoziales Modell umzusetzen. Der Bund habe das Konzept der integrierten Gesundheit bisher nur modellhaft unter dem Begriff „Gesundheitskioske“ im SGB V, Art. 140a aufgenommen. Momentan würden zwei Projekte gefördert, im Jahr 2023 sei eine Erweiterung durch zusätzliche Projekte geplant.

Insbesondere Bezirke mit Menschen in schwierigen Lebenslagen profitieren

In Berlin weisen drei Bezirke eine besonders schwere soziale Lage auf, dazu gehört unter anderem der Bezirk Spandau, erklärt Tanja Götz-Arsenijevic. Sozialpädagogische Bedarfe nehmen zu und es brauche politischen Willen und gesetzliche Rahmenbedingungen für eine gute Lösung. Insbesondere in Bezirken, in denen viele Menschen in schwierigen Lebenslagen wohnen, seien integrierte Gesundheitszentren eine hilfreiche Versorgungsform. Dafür müssen entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung stehen und Angebote gut vernetzt werden.

Neue Wege in der Bedarfsplanung und Finanzierung gehen

Der zu erwartende Wegfall von 800 der mehr als 2600 Hausärzt*innen in Berlin in den nächsten drei bis fünf Jahren sorgt für enormen Handlungsdruck für die Gesundheitsversorgung, so Dr. Burkhard Ruppert. Es bestehe das Risiko für eine starke hausärztliche Unterversorgung, die bereits jetzt in einigen Bereichen zu beobachten sei. Zur Lösung gehöre auch, Bedarfe besser zu planen und die Finanzierung auszubauen. Grundsätzlich unterstützt die Kassenärztliche Vereinigung Berlin den Ausbau einer integrierten Gesundheitsversorgung, sagt Dr. Burkhard Ruppert. Dabei müsse darauf geachtet werden, dass dieser Ausbau nicht die Gesundheitsversorgung an anderer Stelle gefährde.

Mit bestehenden Strukturen arbeiten und parallel neue aufbauen

Wichtig ist, so Rebecca Zeljar, parallel mit den bestehenden Versorgungsstrukturen zu arbeiten und gleichzeitig zu beginnen, neue Strukturen aufzubauen. Was benötigt werde, seien bundeseinheitliche Rahmenbedingungen, Strukturen und Finanzierungsgrundlagen.

Weiteres Vorgehen anhand des Public Health Action Cycle ausrichten

Jun. Prof.in Dr. Verena Vogt erläuterte die Planung und Umsetzung eines solchen Vorhabens anhand des Public Health Action Cycle: Ein wesentlicher erster Schritt ist die Bedarfsplanung. Anschließend gilt es gemeinsame Zielvorstellungen zu formulieren. Im Weiteren ist das Lernen von Best Practice-Modellen für Berlin eine Chance, Aspekte aus bestehenden Ansätzen zu übernehmen. Im internationalen Vergleich habe sich gezeigt, dass bei der Umsetzung ein Steuerungsgremium, das Verantwortlichkeiten verteilt, ein geeignetes Instrument darstellt.

Was braucht es noch? Regelfinanzierung, Umdenken und Partizipation!

Der Transfer der internen Sozialberatung in Arztpraxen in weitere Bezirke ist möglich und nach Dr.in Martyna Voß ein wichtiger Ansatz integrierter Gesundheit.

Für eine nachhaltige Eingliederung von integrierter Gesundheit ist die Übernahme in die Regelversorgung notwendig, betonte Dr.in Patricia Hänel. Zudem erfordere die Zusammenarbeit verschiedener Professionen (z. B. Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen) ein grundsätzliches Umdenken der Akteur*innen. Nur gemeinsam mit dem Stadtteil ist es möglich, integrierte Gesundheit zu realisieren, so Dr.in Martyna Voß. Die Stadtteilbewohner*innen müssten an der Gestaltung ihrer Gesundheitsversorgung beteiligt werden.

Wie kann die weitere Zusammenarbeit aussehen?

Unterstützung und Engagement bei der Umsetzung der integrierten Gesundheitsversorgung wird von verschiedenen Akteur*innen und auf unterschiedlichen Ebenen angeboten.

Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin könne ihr „Know-How“ in Bezug auf inklusive Qualitätsstandards und Kommunikationsplattformen als praktische Hilfestellung anbieten.

Ebenso unterstütze und evaluiere die Organisationseinheit Qualitätsentwicklung, Planung und Koordination (OE QPK) des Bezirksamts Lichtenberg bereits die interne Sozialberatung in Arztpraxen. Außerdem spricht sich die QPK für eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Berufsgruppen aus und plädiert generell für unterschiedliche Strategien der integrierten Versorgung.

Die Wissenschaft könne bei der Bedarfsanalyse sowie der Analyse von Best Practice-Modellen unterstützen. Auch würde sie sich anbieten, bei Anträgen zur Anschubfinanzierung mitzuwirken.

Fazit:

Die Diskutierenden sind sich einig, dass das Konzept der integrierten Gesundheitsversorgung weiter ausgebaut werden soll. Es kann einen wichtigen Baustein bei der Bewältigung einer drohenden Unterversorgung bilden. Grundsätzlich ist damit eine umfassendere und chancengerechtere Versorgung möglich. Für die Umsetzung wurde mehrfach die Bedeutung einer adäquaten Bedarfsanalyse, unterschiedlicher Herangehensweisen, Partizipation und Kooperation aller Beteiligten, klarer Rechtsgrundlagen und Finanzierungsmöglichkeiten betont. Sie spielen eine wesentliche Rolle in der Verfestigung einer integrierten Gesundheitsversorgung. Das Gesundheitsforum hat verdeutlicht, dass Berlin hier auf einem guten Weg ist, aber dass es ebenso unerlässlich ist, den Austausch zwischen den beteiligten Akteur*innen fortzuführen.


Die Veranstaltung wurde von der Fachstelle für Prävention und Gesundheitsförderung im Land Berlin und der Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit (KGC) Berlin organisiert. Dr. Martin Oldenburg von der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung in Schleswig-Holstein e. V. moderierte das Gesundheitsforum.


Nekisa Laura Bagheri für das Team der Fachstelle für Prävention und Gesundheitsförderung im Land Berlin

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