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Es braucht mehr von Allem – Geld, Personal, Angebote! 

Dokumentation des Gesundheitsforums der Landesgesundheitskonferenz am 28.06.2023

Wie sich die medizinische Versorgung für Menschen ohne eigenen Wohnraum verbessern lässt, diskutierten am 28. Juni 2023 Fachakteur*innen beim Gesundheitsforum der Berliner Landesgesundheitskonferenz.

Das Leben auf der Straße macht krank

Menschen ohne eigenen Wohnraum haben ein fast zwölffach erhöhtes Sterberisiko (Frauen 11,9%, Männer 7,9%; Lancet 2018, 391:241-50) als die Allgemeinbevölkerung. Sie leiden überdurchschnittlich häufiger an somatischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Erkrankungen der Atemwege. Die meisten sind psychisch krank (76,2 %). Mit diesen Zahlen machte Dr.in Stefanie Schreiter vom Forschungsnetzwerk Wohnungslosigkeit und Gesundheit an der Charité gleich zu Beginn der Veranstaltung anschaulich deutlich, wie sich das Leben auf der Straße auf die Gesundheit der Betroffenen auswirkt. Viele kämpfen bereits vor dem Verlust des eigenen Wohnraums mit gesundheitlichen Problemen, die sich dann noch verstärken.

Zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Obdach- und Wohnungslosigkeit kommt die Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen. Sie werden in unserer Gesellschaft ausgegrenzt - das belastet zusätzlich. Ausgrenzung erfahren Menschen ohne eigenen Wohnraum auch durch das Hilfesystem selbst, sodass sie Hilfe und Unterstützung erst gar nicht annehmen. Selten suchen obdachlosen Menschen eine ambulante Arztpraxis auf. Wer Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen machen musste, hat weniger Selbstvertrauen, schämt sich seiner Situation und vertraut sich seltener anderen an. Folglich ist die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten gering und/oder erfolgt zu spät.

Häufig verschlechtert sich die gesundheitliche Situation wohnungsloser Menschen dadurch so sehr, dass sie notärztlich im Krankenhaus versorgt werden müssen. Die Berliner Krankenhausgesellschaft spricht von bis zu 15 Millionen Euro jährlich, die die Krankenhäuser aufgrund der häufig mangelnden Krankenversicherung der Betroffenen u.a. nicht erstattet erhalten, so Geschäftsführer Marc Schreiner. Die überlasteten Notaufnahmen versorgen die Menschen, nehmen sie ggf. stationär auf und müssen sie in der Regel dann wieder auf die Straße entlassen. Kein Ort, an dem man gesund werden kann.

Ein komplexes Problem, auf das mit einem komplexen Angebotsportfolio reagiert werden muss.

Hilfen und Angebote ausbauen – auf allen Ebenen

Es ist einfach nicht genug Geld im System, so Kai-Gerrit Venske vom Caritasverband für das Erzbistum Berlin und Koordinator des Runden Tisches zur (zahn-)medizinischen Versorgung obdachloser Menschen in Berlin. Nicht genug Geld, um die Menschen mit Angeboten zu unterstützen, die sich bewährt haben, oder weitere Angebote zu schaffen und Pilotprojekte zu starten.

Dazu gehört auch, die Barrieren bei bestehenden Angeboten zu senken und dadurch die Inanspruchnahme zu erhöhen. Also z. B. zugehende Angebote auf- und auszubauen und andererseits die Regelversorgung für wohnungs- und obdachlose Menschen zu öffnen. Denn auch der Abbau von Zugangsbarrieren kostet Geld.

Häufig scheitert eine Versorgung daran, dass ein großer Teil der Menschen nicht krankenversichert ist. Ein behebbares Problem meint Dr. Burkhard Ruppert, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin. Wären Betroffene krankenversichert, könnte sich die Inanspruchnahme erhöhen und Mediziner*innen die erbrachten Leistungen besser abrechnen.

Die 2018 gegründete Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen berät Personen ohne (ausreichenden) Krankenversicherungsschutz  und unterstützt bei der Herstellung sozialrechtlicher Ansprüche.  Personen die aufgrund aktuell fehlender Leistungsansprüche nicht in eine Krankenversicherung vermittelbar sind, können über die Clearingstelle eine Kostenübernahme für notwendige medizinische ambulante und stationäre Behandlungen erhalten. Bereits 2022 war die Nachfrage nach Beratung und medizinischer Behandlung so hoch, dass die finanziellen Mittel für die medizinischen Behandlungen durch die SenWGP aufgestockt werden musste. Auch 2023 zeichnet sich ab, dass der Bedarf weiterhin sehr hoch bleibt. Herausforderungen bestehen bei Menschen, die aufgrund gesundheitlicher Probleme die Antragstellung nicht bewältigen können. Insbesondere für die große Gruppe der EU-Bürgerinnen und EU- Bürger fordert die Kassenärztliche Vereinigung eine Entbürokratisierung der behördlichen Anträge.

Einen Teil der Versorgung nicht krankenversicherter Menschen decken auch die Gesundheitsämter der Bezirke ab. Sie versorgen die Menschen im Bezirk sozialkompensatorisch, erläutern Christoph Keller, Bezirksstadtrat für Gesundheit aus Mitte und Dr.in Nicoletta Wischnewski, Leiterin des Gesundheitsamtes in Charlottenburg-Wilmersdorf. Nicht immer sind Gesundheitsämter mit ihren Leistungen und Hilfen sichtbar. Mit mehr Zuständigkeiten und Personal ließe sich das ändern.

Auch die Helfenden kommen bei der Komplexität von zuständigen Stellen, Zugangsvoraussetzungen, Finanzierungstöpfen und gesetzlichen Bestimmungen an ihre Grenzen. Sie verbringen viel Zeit und Engagement damit, teilweise kreative Lösungen für Einzelfälle zu finden. Oft sind sie auf ein gutes Netzwerk, den Austausch und die Transparenz im System angewiesen, um den Menschen schnell und bestmöglich helfen zu können. Das kostet zusätzliche Zeit und Geld.

Einem komplexen Problem mit einer abgestimmten Strategie begegnen

Komplexität braucht Struktur, Steuerung und Koordination. Derzeit gibt es in Berlin noch keine abgestimmte Strategie, um die medizinische Versorgung von Menschen ohne eigenen Wohnraum strategisch weiterzuentwickeln. Senat, Bezirke, Wohnungslosenhilfe, freie Träger und viele engagierte Menschen – alle versuchen ihren Beitrag zu leisten. Doch wer nimmt das Thema in die Hand, setzt sich den Hut hierfür auf, trägt Verantwortung? Stimmen aus dem Publikum fordern das Land Berlin auf, hier klare Zuständigkeiten festzulegen, um dem strukturellen Problem mit abgestimmtem Handeln zu begegnen.

Die Berliner Landesgesundheitskonferenz leistet einen Beitrag, indem sie Gesundheitsziele formuliert und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vorschlägt. Unter der doppelten Federführung von SenWGP und SenASGIVA wird auf Grundlage der Gesundheitsziele derzeit an einem Konzept zur Verbesserung der medizinischen Versorgung gearbeitet.

Nina Przyborowski, von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege und Ekkehard Hayner, von der GEBEWO Soziale Dienste schlossen die Veranstaltung stellvertretend für die im Gesundheitszieleprozess wirkenden Akteur*innen. Sie wünschen sich klare Zuständigkeiten und eine verbesserte Zusammenarbeit unterschiedlicher Ressorts, smarte Lösungen und mehr Austausch der Akteur*innen sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Gesundheitsämter und Versorgungsstellen. Gleichzeitig warben sie für die Mitwirkung im Gesundheitszieleprozess.


Programm & Dokumente

Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Dr. Christian von Dewitz, von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege (SenWGP).

Hier finden Sie das Grußwort

Zwei Fachimpulse ordneten das Thema ein: 

Dr.in med.in Stefanie Schreiter, Forschungsnetzwerk Wohnungslosigkeit und Gesundheit an der Charité Berlin 

Hier finden Sie die Präsentation zum Vortrag (PDF, nicht barrierefrei)

Nina Przyborowski (SenWGP) und Ekkehard Hayner (GEBEWO Soziale Dienste) für die Unterarbeitsgruppe wohnungslose Menschen der Berliner Landesgesundheitskonferenz 

Hier finden Sie die Präsentation zum Vortrag (PDF, nicht barrierefrei)

Auf dem Podium und mit dem Publikum diskutierten 

  • Dr. Christian von Dewitz, Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege (SenWGP) 
  • Marc Schreiner, Geschäftsführer, Berliner Krankenhausgesellschaft  
  • Christoph Keller, Bezirksstadtrat für Gesundheit Berlin-Mitte  
  • Dr.in med.in Nicoletta Wischnewski, Leiterin Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf 
  • Dr. Burkhard Ruppert, Kassenärztliche Vereinigung Berlin
  • Kai-Gerrit Venske, Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V., Fachreferent Wohnungslosenhilfe, Koordinator Runder Tisch zur (zahn-) medizinischen Versorgung obdachloser Menschen in Berlin  

Moderation 

Dietmar Ringel, rbb 24 Inforadio

Eine ausführliche Dokumentation der Veranstaltung folgt in Kürze.  


Pressestimmen

Weitere Informationen zu den Gesundheitszielen für Wohnungslose finden Sie in unserem Fachartikel:

 "Berliner Landesgesundheitskonferenz beschließt als bundesweit erste Landesgesundheitskonferenz Gesundheitsziele für wohnungslose Menschen"

Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege zur Veröffentlichung der Gesundheitsziele

Berichtet haben u. a. taz - die Tageszeitung und das Ärzteblatt


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